Über Jahrzehnte nahmen Gerichte
lesbischen Müttern ihre Kinder

»Ein Kind gehört zur Mutter – außer sie ist lesbisch.«


Bundesdeutsche Gerichte entzogen Müttern ihre Kinder bis mindestens in die 1980er Jahre – wenn den Gerichten bekannt war, dass die Mütter lesbisch lebten. Damit das nicht passierte, verbarg manche Mutter ihre Lebensgefährtin. Dies wurde in der ersten historischen Studie über lesbisches Leben im jungen Rheinland-Pfalz deutlich.

Bei weiterer Forschung zeigte sich bald, dass es auch noch in den 1990er Jahren alltäglich war, wenn Gerichte lesbischen Müttern deren Kinder nahmen. Oder wenn damit gedroht wurde.

Wir wissen nicht, ob die hier im Bild zu sehenden Frauen auch vom Entzug des Sorgerechts bedroht waren, ob die Mütter heterosexuell lebten oder nicht. Wir wissen ohnehin noch viel zu wenig. 

Die rheinland-pfälzische Frauenministerin Anne Spiegel hat bei der Vorstellung der Studie am 14. Januar 2021 betont, dass ein solcher Entzug des Sorgerechts als Unrecht anzusehen ist. Dafür entschuldigte sie sich.

Der Forschungsbericht liegt vor, auch in einer Kurzfassung. Das Forschungsprojekt, das das Land Rheinland-Pfalz förderte, ist abgeschlossen – aber nicht das Thema an sich. Sollten Sie Erinnerungen oder Dokumente beisteuern wollen, würden wir uns freuen, wenn Sie sich bei uns melden.

Für Nordrhein-Westfalen beginnt nun auch ein neues Forschungsprojekt. Das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen fördert die Studie über den Entzug des Sorgerechts bei Müttern, die eine lesbische Beziehung führten, in den Jahren 1946 bis 2000. Bisher bekannte Quellen weisen darauf hin, dass Gerichte und Institutionen in Nordrhein-Westfalen durchaus unterschiedliche Entscheidungen trafen: In NRW gab es Forderungen von Institutionen, die verlangten, offen lesbisch lebende Mütter sollten nicht mit ihren Kindern leben dürfen. Andererseits fällte das Amtsgericht Mettmann 1984 das erste bekannte Urteil, das Homosexualität und Kindeswohl nicht als Gegensätze wertete. Geleitet wird die Forschung von LAG Lesben / Queeres Netzwerk NRW. Wir suchen Material (von Briefen über Urteile bis Zeitungsartikel) und Zeitzeug*innen!

Auch suchen wir immer noch Mütter und Kinder, die öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen. Über ihre Angst, dass das Sorgerecht wegen lesbischer Liebe der Mutter infrage stand. Oder darüber, dass das Sorgerecht aus diesem Grund tatsächlich entzogen wurde. Wenn Sie öffentlich darüber sprechen würden, melden Sie sich bitte bei uns.


1959
1961
1974
1977
1984
1985
1989
1991
1996
1999

Rückblick

Ehefrauen erhalten durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts erstmals die formelle Gleichberechtigung im elterlichen Sorgerecht; zuvor hatte der Ehemann und Vater das Recht, alle wesentlichen Entscheidungen zu treffen

Verschärfung des Scheidungsrechts tritt in Kraft, maßgeblich betrieben von Franz-Josef Wuermeling aus RLP: nun ist eine Ehe gegen den Widerstand des Gatten kaum noch zu beenden; das Sorgerecht für die Kinder wird den an der Scheidung „Schuldigen“ grundsätzlich nicht gewährt

In Itzehoe steht ein Frauenpaar vor Gericht, das sich nicht anders zu helfen wusste, als den Ehemann ermorden zu lassen, der eine der Freundinnen regelmäßig vergewaltigte, mit Entzug des Kindes drohte und eine Scheidung verweigerte

Neues Scheidungsrecht tritt in Kraft: ab jetzt ist eine Ehe rein rechtlich wegen Zerrüttung zu beenden; wirtschaftlich bleibt es für Mütter schwierig bis bedrohlich. „Um die Angst verheirateter Lesben zu reduzieren, müßte gewährleistet sein, daß sie bei einer Scheidung nicht mehr automatisch die Kinder verlieren.“


Kuckuc, Ina [Kokula, Ilse]: Gesellschaftspolitische Arbeit und Emanzipation von Lesbierinnen. In: Lautmann, Rüdiger (Hg.): Seminar: Gesellschaft und Homosexualität. Frankfurt a. M. 1977, S. 465-473, hier 468.

Ein Gericht in Mettmann urteilt, die gleichgeschlechtliche Veranlagung alleine disqualifiziere einen Elternteil nicht hinsichtlich des Sorgerechts

Nach dem neuen Unterhaltsreformgesetz der Regierung Kohl konnte nun Unterhalt eingeschränkt oder sogar versagt werden, wenn den Berechtigten – in der Regel den geschiedenen Frauen – ein schwerwiegendes Fehlverhalten zur Last gelegt werden konnte

Das Landgericht München entscheidet, eine gleichgeschlechtliche Beziehung der Mutter stelle keinen Grund dar, den Unterhalt zu versagen. Aber die erste offen lesbische Bundestagsabgeordnete stellt auch fest: „Die Angst davor, durch offen-lesbisches Leben Kinder zu verlieren, ist sicher eine der massivsten Bedrohungen, durch die Frauen von ihrem coming out abgehalten werden.“

Oesterle-Schwerin, Jutta: Zwei Jahre Lesben-Politik im Bundestag – Wie alles anfing und wie es weitergehen könnte. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis 12 (2. Auflage 1990 [1989]), Nr. 25/26, S. 201-208, hier 207

Ratgeber für lesbische Mütter bzw. Lesben fordern gesellschaftliche Anerkennung; das Kindeswohl soll nicht mehr an Heterosexualität der Mütter gebunden werden

„Die Meinung, daß ein Kind zur Mutter gehöre, ist fest in unserer Gesellschaft verankert – es sei denn, sie ist lesbisch.“

Thiel, Angelika: Kinder? Na klar! Ein Ratgeber für Lesben und Schwule. Frankfurt a.M./New York 1996, S. 77

Bei einer Großen Anfrage im Mainzer Landtag ist das Sorgerecht lesbischer Mütter eines der Themen.